Innehalten. Zen üben – Atem holen – Kaft schöpfen. Fleur Sakura Wöss. btb-Verlag, München. 2007.
fleurwoess.com
Februar 2024
»Das Geschenk einer Zen-Lehrerin an Menschen auf der Suche nach Stille, Kaft und Gelassenheit« steht auf der Rückseite des Buches. Und genauso ist es. »Innehalten« ist ein Buch, das ich immer wieder lesen werde. Weil es so klar, einfach und logisch ist. Seine Autorin, die Wienerin Fleur Sakura Wöss, kam in Tokyo zur Welt. Sie lebte, lehrte und forschte viele Jahre in Japan und studierte davor Japanalogie, Buddhismus und Sanskrit. Wöss gründete 2006 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten das Zen-Zentrum in Wien und leitet es seither. Befragt man sie selbst, wer sie sei, beruft sie sich mit »Ich weiß es nicht.« auf ihrer Website auf die Weisheit alter Zenmeister.
Dies soll keine klassische Inhaltsangabe oder Zusammenfassung von Innehalten sein. Vielmehr eine Wiedergabe dessen, was mir spontan in den Kopf kommt und ergänzt durch eigene Überlegungen. Es geht, wie schon erwähnt, um das Nichts. Um den Zwischenraum, die Pause, die Null (oder den Nuller, wie wir in Österreich zu sagen pflegen). Wöss bezieht sich dabei auf viele Bereiche im Alltag, aufs Lernen und Nichtdenken, auf die Musik und Kunst bis hin zu Architektur und Städteplanung. Und eben auf das kleine Wörtchen ma, ausgedrückt als japanisches Schriftzeichen, hier links im Bild.
ma, schreibt Wöss, sei das japanische Wort für Zwischenraum und spiele in Japan eine große Rolle. Es sei zeitlich und räumlich nicht messbar, könne der Zwischenraum zwischen Menschen oder Gegenständen sein, eine Gesprächspause, der Leeraum zwischen Musiknoten und generell der Zeitraum des Innehaltens, der Pause zwischen Ein- und Ausatmen. Darüber hinaus gebe es noch viele andere Bedeutungen. ma stehe für eine erfüllte und notwendige Leere. Wöss übersetzt es ins Deutsche mit: Freizeit, Freiraum, Auszeit, Nichts, Grauzone, Pause, Zeitfenster, Spielraum, Lücke, Leere. Äußerst faszinierend finde ich persönlich das graphische Schriftzeichen für ma, weshalb der entsprechende Passus aus dem Buch weiter unten wörtlich wiedergegeben ist.
Beispiele aus dem Buch für mehr ma im Alltag. Das Gehirn braucht, und das sagt nicht nur Wöss, dringend Phasen des Nichttuns, Nichtdenkens, der Langeweile, um Gelerntes prozessieren zu können. Gedächtnis könnte nur so aufgebaut werden. Stundenlanges Büffeln sei kontraproduktiv, das Gehirn werde überreizt. Besser sei es, einmal in der Stunde aufzustehen, die Wäsche aufzuhängen oder leer in die Luft oder in den Garten zu schauen. Kreativität entsteht dann, wenn das Gehirn entspannt ist, beim Waldspaziergang, unter der Dusche oder beim stillen Sitzen. Kinder werden kreativ, wenn ihnen langweilig ist. Dann werden Hölzchen zu Pferden und Tannenzapfen zu Wichtelchen. Dauerbeschäftigung und Dauerberieslung machen Kreativität zunichte. Dies sollte auch in den Kindergärten und Schulen mehr ins Bewusstsein geholt werden.
Musik sei die Anordnung von Noten um die Notenpause. Nur mittels des Notennichts könne Musik überhaupt entstehen und können Klänge zur Wirkung kommen. Ähnliches gelte für Bilder und Kunst an der Wand oder im Raum. Sie können nur wirken, wenn genügend Platz, Raum, Nichts um sie herum sei. Ikebana, die alte japanische Blumensteckkunst, bei der »die Schönheit einer einzelnen Blüte durch das Auslassen von etwas anderem besser zur Geltung« komme. Die Wichtigkeit der Pausen im Gesagten, zwischen den Worten. Pausen, die die Gedanken der Zuhörenden anregen, die Spannung erhöhen und dem Sprecher, der Sprecherin selbst Zeit geben zum Überlegen und Nachdenken. Und wie oft ist das Nichtgesagte nicht wichtiger als das Gesagte?
Das wichtige Thema Städtebau. So haben sich früher die Häuser um leere Plätze gescharrt, einander zugewandt. Auf diesen Plätzen fanden Märkte statt, dort waren die Geschäfte, Kaffeehäuser und Ämter. Dort trafen die Menschen aufeinander, redeten und stritten und machten ihre Geschäfte. Und heute? Heute sind viele Dorfkerne verwaist, die Leute steigen ins Auto, um anonym im anonymen Gewerbepark ihre Erledigungen zu machen. Die Anstrengungen heute sind groß, die Leerstände in den Zentren wieder zu beleben. Plätzen wird erst seit kurzem wieder die Aufmerksamkeit zuteil, die ihnen gebürt. Raum für die Allgemeinheit, G'stetten, die die Kinder draußen zum Kreativsein animieren, wo nicht alles alles einem Zweck gewidmet sein muss.
Spannend auch das ma in der Mathematik, die Ziffer Null. Die mathematische Null war im Mittelalter in Europa unbekannt, kam aus dem arabischen Raum zu uns und verursachte in der Folge großes Kopfzerbrechen. Man erkannte, dass die Null keine eigene Bedeutungsmacht habe, sie diese jedoch anderen verleihe. Wöss: »Sofort war ich von der Idee fasziniert, wie ein Nichts die Denkweise des ganzen europäischen Kontinents auf den Kopf stellen konnte – und dass ein Symbol, dass für sich selbst keinen Stellenwert hat, alles andere, nämlich das, was ist, vervielfachen (und mithilfe einer Klammer verkleinern) kann.«
Neben vielen weiteren inspirierenden Beispielen wie der großen Zen-Meditation, der Wöss als Leiterin des Wiener Zen-Zentrums naturgemäß einen größeren Bereich widmet, auch das Nichts beim Spaziergang. Wöss geht immer die gleichen Wege, so sieht sie die Veränderung und den Wechsel der Natur, muss nicht über das Wohin und Woher nachdenken und kann ihre Gedanken fließen lassen. Meditativ und kreativ. Etwas, das ich selbst seit vielen vielen Jahren praktiziere. Immer derselbe Weg, beginnend im Weingarten, durch den Wald und wieder zurück. Neben der sich verändernden Natur erlebe ich das Anwachsen und Kleinerwerden der Tage. Und oft passiert es mir, dass ich fast wie nach einer Trance an manchem Ort am Weg wieder zu mir komme und nicht weiß, wie ich dorthin gelangt bin. Und mindestens genauso oft komme ich heim mit Ideen für Projekte und Kunden, ohne dass ich bewusst darüber nachsinniert hätte.
Innehalten ist ein Buch, das ich noch viele Male verschenken werde. Allen, die es gelesen haben, ist es ebenfalls sehr wertvoll geworden. Danke, liebe Fleur Sakura Wöss!
Das japanische Schriftzeichen ma.
Zitiert aus dem Taschenbuch »Innehalten«, Seite 26.
»Betrachten wir das chinesische und japanische Schriftzeichen für ma genauer, ist schon seine Zusammensetzung inspirierend. Schriftzeichen bestehen im Japanischen und Chinesischen aus verschiedenen Teilen, die für sich genommen auch etwas bedeuten können. Diese Einzelelemente schwingen oft als assoziatives Element in der Bedeutung mit. Im Falle von ma hat der Aufbau eine poetische sehr bildhafte Note.
Die Umrahmung außen herum stellt ein Tor da. Die Kästchen links und rechts mit dem nach unten verlängerten Strich sehen aus wie die Drehtüren eines Western-Saloons. Dieses Schriftzeichen kann auch für sich alleine stehen und bedeutet »Tor«. Innerhalb des Tores, unterhalb und quasi von den beiden Torflügeln umflossen, also dazwischen, steht das eine Viereck mit einem Querstrich, Zeichen für Sonne. Es ist also ein Tor, durch das die Sonne scheint. Was für ein wunderbares Bild!
Das Tor ist etwas zum Anfassen. Wenn man es offen lässt und sich ein Zwischenraum auftut, können die Lichtstrahlen und die Wärme durchfließen. Es ist materielle Umrahmung und Begrenzung zugleich und die Voraussetzung, dass Fülle entstehen kann. Nur wenn es offen ist, kann man durchgehen. Es braucht beides, die Begrenzung und den Raum dazwischen. Dieses Bild für Zwischenraum, ma, drückt zwei Aspekte aus: den materiellen Aspekt und den gefühlten Aspekt.«